Young Miss 12/96

BJÖRK!

Text: Claudia Zeschke

Photos: Mike Diver



Hättest du gedacht, daß sie schon 30 ist? Oder geahnt, daß sie seit 20 Jahren Platten macht? Als Kind muß sie jedenfalls, ähnlich wie Obelix, in einen Kessel Kraftbrühe gefallen sein - Björk Gudmundsdottir ist nicht nur außergewöhnlich energiegeladen, sie macht auch genau solche Musik. Jetzt kommt ihr drittes Soloalbum mit Remixes vom Vorgänger "Post" und neuen Songs heraus: "Telegram".

 


Als Mitschülerin hättest du sie wahrscheinlich ganz schön nervig gefunden: in Mathe bekam sie Begabtenförderung, war obendrein hochmusikalisch - und schon mit elf Jahren ein Star. Björk: hyperaktives Zappelwesen, das die Macke hat, sich schnell zu langweilen, und deshalb am liebsten tausend Sachen gleichzeitig erledigt.

Ihre erste Platte mit Heimatliedern verkaufte sich in Island mehr als 6000mal. Das ist beeindruckend für ein Land, in dem weniger Menschen als Schafe leben, nämlich nur 250 000.

Im Alter von zwölf sang Björk in einer Popband. Kurz darauf trat sie zum erstenmal im Fernsehen auf und verdiente auf einen Schlag mehr Geld als ihre Mutter Hilda, eine Büroangestellte. Was für ein widerliches Karrieregör, könnte man denken, das außerdem sehr verschlossen war: Björk empfand es als zu anstrengend, sich mit anderen zu unterhalten. Am liebsten campte sie deshalb ganz allein in den isländischen Lavafeldern. Mit so einem Kind befreundet sein - schwierig.

Doch gerade ihre Eigenheiten machen die inzwischen 30jährige Björk so interessant. Neben den vielen aufgetakelten, mal mehr, mal weniger nichtssagenden Hitparadensängerinnen wirkt sie wie ein Paradiesvogel. In ihren grellbunten Gewändern, die so etwas Ähnliches wie Kleider darstellen sollen. oder in diesen Strickmonstern von Pullovern, die sie so gern trägt, weil man sich die Ärmel ganz weit über die Hände ziehen kann. Mit der Wimperntusche, die meistens ein bißchen verschmiert ist. Björk ist sympathisch kindlich - und hat trotzdem weitaus mehr zu sagen als die meisten anderen Erwachsenen. Ein Glück, daß sie all das nicht wie früher für sich behält, sondern inzwischen eher redet wie ein Wasserfall. Wobei sie ihre Gesprächspartner zm liebsten mit Musik aus dem Ghettoblaster traktiert und dazu wie geistesabwesend herumhibbelt.

"Jemand hat mir bei der Geburt zuviel Energie injiziert", ist Björks simple Erklärung dafür. Als Kind war "Alice im Wunderland" ihr Lieblingsbuch, und die Geschichte des Mädchens, das von zu Hause wegläuft, weil es sich langweilt, paßt heute noch zu ihr. "Eine Freundin sagte mir, ich sei eher wie der Hase aus dem Buch, weil ich immer in Eile bin."

Daß es diese Kraft gibt, die sie in ihrem Leben antreibt, hat viel mit den Umständen zu tun, unter denen sie aufwuchs. "Wir lebten in einer Hippie-Kommune. Sicher machte es Spaß, ständig umzuziehen und Sternkonstellationen auszurechnen." Aber die Inkonsequenz ihrer Eltern, die eigentlich aussteigen und nach Indien fahren oder etwas Kreatives tun wollten, um dann doch ihren ordentlichen Berufen nachzugehen, machte die Tochter wahnsinnig. Deshalb stellte Björk für sich die Grundregel auf: "Wenn du etwas willst, mach es auch - und rede nicht lang herum." Menschen, die nicht ihre Träe verfolgen, sondern mit faulen Kompromissen leben, versteht sie nicht: "Das ist wie Sex mit jemanden, den man nicht mag. So etwas macht taub."

Also wurde Björk, was sie immer sein wollte: Sängerin. Mit zwölf hatte sie schon 7 Jahre auf de Musikschule von Reykjavik hinter sich wo sie Musiktheorie, Kompositions- und Harmonielehre lernte, "vor allem aber, daß ich ohne das alles prima leben kann." Mit 14 Jahren zog Björk zu Hause aus und verdiente sich ihr Geld durch Jobs in einer Fischfabrik und einer Coca-Cola-Abfüllanlage. Mit Freunden lebte sie in einer WG und gründete diverse Bands, mit denen sie meist Punk oder "elektronische Mutantenmusik" und Big-Band-Jazz spielte. "Wir waren ein lustiger Anarchistenhaufen, der einen Piratensender aufmachte, über den wir sinnlose Slogans und wirre Gedichte sendeten." 1986 wurde sozusagen Björks Überflieger-Jahr: Mit der Punkformation Kukl ging die damals 20jährige erstmals auf Tournee außerhalb von Island. "Wir fuhren mit einem alten Laster durch Europa und spielten in finsteren Kellern. Unser Benzin klauten wir anderen Leuten aus dem Tank. Und um fit zu bleiben, aßen wir Zucker." Die hochschwangere, tätowierte Frontfrau mit der eindringlichen Stimme, die auf der Bühne schrie, schluchzte und flüsterte, haute die Musikkritiker vor Begeisterung vom Tresenhocker. Noch im selben Jahr taufte sich die Band in Sugarcubes (Zuckerwürfel) um und wurde anch frischem Fisch zum größten Exporterfolg Islands. Und im selben Jahr brachte Björk ihren Sohn Sindri zur Welt.

Mit dessen Vater Thor Eldon, dem Gitarristen der Sugarcubes, betreibt sie heute ihr eigenes Plattenlabel One Little Indian. Die beiden sind allerdings längst geschieden. Geheiratet hatten sie damals nur, weil Thor Kontaktlinsen brauchte und die so verdammt teuer waren. "In Island gibt es ein lustige Gesetz", erzählt Björk, "Wenn du in jungen Jahren Geld verdienst, werden dir 25 Prozent als Rücklage für später abgezogen - es sei denn, du heiratest. Was haben wir unsere Familien mit der Aktion damals geschockt!"

Nach drei Alben machte Björk 1990 mit einem Jazz-Trio die Platte "Gling-Glo", und 1992 lösten sich die Sugarcubes endgültig auf. Björk suchte neue musikalische Herausforderungen. Und die fand sie in London in der Zusammenarbeit mit den Klangkünstlern Goldie und Tricky (die auch genau in dieser Reihenfolge ihre Liebhaber wurden, was wiederum deren langjährige Freundschaft beendete).

Björks Umzug nach England war einer der einschneidensten Schnitte in ihrem Leben, weil sie ihre Heimat, die so wunderlich wie sie selbst ist, über alles liebt - eine Insel mit Vulkanen und Geysiren, auf der es niemals richtig Sommer wird. Weil die Winternächte bis zu 22 Stunden dauern, haben die Isländer Rekorde im Literaturverbrauch aufgestellt. Ansonsten blieben sie weitgehend von den Entwicklungen und Entdeckungen der Außenwelt verschont. "In den 40erJahren war Island eine dänische Kolonie, und die Menschen lebten wie im Mittelalter", erklärt Björk. "Anschließend haben wir einen Sprung gemacht, für den Europa 600 Jahre Zeit hatte." Auf der einen Seite jagt ihre Familie noch immer die Hälfte ihres Essens selbst, und da viele Menschen noch heute an Elfen und Trolle glauben,werden Straßentrassen so geplant, daß die Plätze der Waldgeister geschützt bleiben. Andererseits ist das Land hoch modern: "Mobiltelefone, Satelliten, es gibt alles", sagt Björk voller Begeisterung. "Island ist voller Extreme - so wie ich."

Sie ging trotzdem. Gemeinsam mit dem mittlerweile zehnjährigen Sindri, der ihr wie aus dem Gesicht geschnitten ist und der sie mit Vorliebe frühmorgens aus dem Bett scheucht, um sie historische Fußballergebnisse abzufragen. Obwohl Björk irgendwann nach Island zurückkehren will, hat sie sich mit dem Leben in London angefreundet. Ihre klaustrophobischen Anfälle, die sie früher in Städten bekam, konnte sie überwinden. Auch damit, daß England ein für sie viel zu konservatives Land ist, hat sie sich inzwischen arrangiert. Ein paar Änderungswünsche bleiben natürlich offen: "Die Stühle, auf denen die Entscheidungsträger sitzen, sind in England braun. Warum stricht man sie nicht endlich pink an?"

Vor Jahren hat sich Björk die Frage gestellt, ob sie eine glückliche Einsiedlerin werden und ihr Leben in den Bergen verbringen soll oder versuchen, mit anderen Menschen zu kommunizieren.

Sie entschied sich für Verständigung - und die funkioniert, in Zahlen heißt das: ihr erstes Soloalbum "Debut" verkaufte sich mehr als dreimillionenmal. MTV zeichnete sie als beste Sängerin aus. Ihre zweite Platte "Post" gilt als eines der genialsten Alben des Jahres 1995: eine wilde Mischung aus HipHop, Techno, Big-Band-Musik, soften Melodien und Synthesizerklängen. Dazu Björks eigenwilliger, sehr abwechslungsreicher Gesang, aufgenommen unter freiem Himmel auf den Bahamas - Frau Gudmundsdottir auf dem besten Weg, "den besten Popsong der Welt zu schreiben" Das ist ihr größtes Ziel. Weil Musik ihrer Meinung nach neben Religion und Politik eine der stärksten Kräfte überhaupt darstellt. "Sie ist in der Lage, unser Denken und damit auch die Welt zu verändern."

Wie bei vielen rastlosen Menschen rauschen auch Beziehungen mit Höchstgeschwindigkeit durch Björks Leben. Schon oft mußte sie sich von verlassenen Lovern den Vorwurf anhören, so kalt wie Island zu sein. "Das stimmt nicht. Ich kann traurig sein, sehr deprimiert - aber immer nur für kurze Zeit", sagt Björk. "Genausowichtig wie eine Liebesaffäre ist es für mich, musikalisch mit Leuten zusammenzuarbeiten. Denn nur in der Musik vergesse ich mich und kann mich gehenlassen." Über die Männergeschichten, die man ihr zeitweilig andichtete, kann sie nur lachen. Wer in einem Nest wie Reykjavik aufwächst und dort als "offizielle Exzentrikerin" stadtbekannt ist, kümmert sich um Klatsch wenig. Wichtig findet Björk nur die Meinung ihrer "500-Prozent-Freunde", Menschen, die sie lange kennt und die sich im Laufe der Jahre mit ihr weiterentwickelten. "Sie fragen nicht nach meiner Karriere. Sie wollen wissen, wie es Oma geht."

Schwer zu glauben, daß die idealistische Björk andererseits auch den Ruf einer knallharten Geschäftsfrau hat. "Vor allem Männer unterschätzen mich, weil sie denken, ich wäre schwach und zerbrechlich." Da steht sie natürlich drüber. Genauso wie die 30jährige darüber grinst, daß sie auch heute noch mit ihrem Sohn Sindri in Restaurants skeptisch beäugt wird: "Weil man uns Kinder für nicht zahlungsfähig hält."