Zillo 6/95



Björk

Text: Kiki Borchardt

Fotos: Katja Ruge


Björk ist ein Kraftfeld. Sie ist klein, vielleicht einssechzig, und sie sieht auch nicht größer aus, aber sie beherrscht den Raum, in dem sie sich befindet. In diesem Fall ist das die Bibliothek eines kleinen schnuckeligen Schlößchens in Dresden. Die deutsche Medienwelt ist von Köln und Hamburg und München nach Osten gereist, weil Björk es sich in den Kopf gesetzt hat, ihr neues Album Post in einem Schloß vorzustellen. Bis eben ist sie mit einem Ghettoblaster auf der Schulter durch die ganze Etage geturnt.Der Anblick ist wirklich unvergeßlich: Ein Kindfraukoboldwesen,angetan mit einem engsitzenden knallrosa Seidenhemd, einem knallorangen Seidenrock und klobigen weißen Joggingschuhen mit Neonstreifen, tobt zu brüllend lauter Südseemusik durch ein romantisch angejahrtes Gemäuer.

 


Stillsitzen ist nichts für Björk, obwohl sie jetzt tatsächlich für einen Augenblick in einem zierlichen Sessel Platz genommen hat. Daß sie heute ein bißchen verkatert ist, merkt man ihr jedenfalls nicht an. "Gestern abend haben wir noch einen Streifzug durch die Stadt gemacht", erzählt sie jedoch, "und in einem Club haben wir ein paar Jungs getroffen, die mir massenweise Tequila Slammers eingeschenkt haben. Ich habe jetzt aber nur deswegen einen Kater, weil ich gestern nicht getanzt, meinen Körper nicht bewegt habe. Das war sowieso sehr komisch gestern - der DJ hat die ganze Zeit die Musik nur ganz leise gespielt. Ich habe gefragt, ob er sie lauter macht, aber er wollte nicht. Ich denke, er war einfach nicht gut drauf. Vielleicht hat seine Freundin mit ihm Schluß gemacht." Sie denkt einen Augenblick nach. "Ja. Bestimmt war es so etwas."

Das ist Björk: Zu jeder Begebenheit gibt es für sie eine Geschichte. Ebenso wie ihr Körper, der jedes gesagte Wort mit Gesten unterstreicht, ist auch ihre Phantasie ständig in Bewegung, um die Realität um ein paar Möglichkeiten zu erweitern. Möglichkeiten, die fast wie unumstößliche Wahrheiten klingen, wenn Björk sie erzählt.

Und sie erzählt und erzählt. Einmal in Fahrt gekommen, ist ihr Redefluß schwer zu stoppen; eine Geschichte knüpft an die nächste. Ihr isländischer Akzent läßt jedes "r" mächtig rollen, obwohl ihr Englisch ansonsten fließend ist. Kein Wunder, sie lebt schon seit längerer Zeit mehr in London als in Reykjavik - seit sie mit den Sugarcubes nach England kam.

Sechs Jahre ist es mittlerweile schon her, daß die Irrlichter aus dem kühlen Norden zunächst bei den Briten, dann weltweit Furore machten. Björk mit ihrer außergewöhnlichen Stimme, die zwischen Hoch und Tief, Laut und Leise, Hauchen und Schreien jede Nuance beherrscht und innerhalb von Sekundenbruchteilen von einem Extrem ins andere schlagen kann, hatte am Erfolg der Band maßgeblichen Anteil.

Die Sugarcubes waren jedoch von Anfang an mehr das lose Projekt mehrerer gleichgesinnter Künstler als eine fest Band, und so gingen sie nach drei bahnbrechenden Alben ohne großen Knall, sondern still und in aller Ruhe auseinander. Während die anderen nach Island zurückkehrten und sich aus dem internationalen Showbusiness zurückzogen, blieb Björk dabei: Sie veröffentlichte 1993 ihr erstes Soloalbum, passenderweise "Debut" betitelt. Die Singles "Venus As A Boy" und "Human Behaviour" entwickelten sich zu richtigen kleinen Hits und hoben "Debut" mit einem Schlag über den Geheimtipstatus hinaus, den die Sugarcubes sich aufgebaut hatten, und die unzähligen Remixe waren besonders in den Clubs erfolgreich.

"Post", das neue, zweite Soloalbum, verfolgt das gleiche Rezept wie "Debut": Erlaubt ist, was Spaß macht. Herausgekommen ist dabei ein rasanter Mix verschiedenster musikalischer Stile, zusammengehalten durch Björks Stimme, abgerundet durch mal sanfte, mal heftige Grooves. Klassische Instrumente treffen auf Synthesizer, Jazz, Dance, Ethno, Folk, Alternative geben sich Song für Song die Hand. Da ist auch Platz für einen Entertainer-Klassiker wie "Blow A Fuse", der vom Arrangement her an einen alten Schwarzweiß-Schinken mit Steptanz und Gesangseinlagen erinnert und der im Original von Betty Hutton, einem Hollywood Star de Vierziger, stammt. "Blow A Fuse" wurde in einem einzigen Take aufgenommen - und live. Björk stand einfach vor dem Orchester und sang.

"Es war toll, einfach toll", schwärmt sie. "Die Arbeit mit dem Orchester wra für mich wie ein Geschenk. Ich konnte jedes Instrument auswählen, das ich wollte, und es spielte meine Musik! Ich war wie ein Kind in einem Spielzeugladen. Es war das Beste überhaupt. Es gab Cembalos und Orgeln und Tablas und Stehbässe und drei Saxophone und dann noch die ganzen anderen Sachen, Percussion, Tuba, Harfen und so weiter. Einer spielte auf dem Glas, weißt du, so", erzählt sie und färht mit dem Finger über den Rand meines O-Saftglases, das leider stumm bleibt und nicht gleich zu schwingen beginnt.

Björk wird jetzt richtig munter; das Alka-Seltzer beginnt offenbar zu wirken, das sie vorher unter viel Kichern genommen hat ("Die sprudeln ja herrlich!"). Sie beginnt, wiederkehrende Melodiefolgen aus ihren Songs vorzusingen und dabei die Klangfarben verschiedener Instrumente darzustellen, um den sorgfältigen Prozeß des Arrangierens zu verdeutlichen. Ihre schmalen Augen weichen dabei keinen Augenblick von meinem Gesicht - sie will ihre Arbeit nachvollziehbar machen, und sie will sicher gehen, daß sie verstanden wird.

Hast du den Gesang auf dem neuen Album wirklich draußen unter freiem Himmel am Strand aufgenommen?

Björk strahlt: "Ja. Ja!" Auch dazu gibt es eine längere Geschichte, und sie fängt, wie sich das gehört, ganz vorn an. "Weil ich mit dem Singen begonnen habe - ohne es eigentlich zu wissen - als ich in Island durch die Gegend lief. Island ist sehr karg, da gibt es nicht viel. Wenn ich zu meiner Großmutter oder zur Schule oder zu meinen Freunden gin, war das imemr ein Weg von zwanzig Minuten oder so, wo ich völlig allein war. Und da habe ich gesungen. Ich habe glückliche Songs gesungen, wenn mir etwas Gutes passiert war, und dann habe ich richtig angefangen, dabei zu rennen, so schnell wie möglich. So habe ich meine Technik ausgebildet, lange bevor ich für andere zu singen begann.

Bei den ersten Aufnahmen gab das dann allerdings Probleme. Es war für mich einfach unmöglich, beim Singen stillzustehen. Es macht keinen Sinn! Und als ich das dann endlich gelernt hatte, hatten die Toningenieure trotzdem Probleme mit mir, weil ich einmal ganz leise und dann plötzlich ganz laut singe. Ich bin vor dem Mikrofon explodiert.

Dann, als 'Debut' sich so gut verkaufte und ich ein bißchen Geld bekam, sagte ich mir: Einen einzigen Luxus werde ich mir auf dem nächsten Album erlauben: Ich mag keine großen Autos oder große Villen, das langweilt mich. Aber ich möchte draußen singen können, wie damals, als ich klein war. Aber das ist fast nirgendwo möglich, weil es überall zu laut ist. Also flogen wir auf die Bahamas, der Toningenieur, der Co-Produzent, der Programmierer und ich. Tagsüber nahmen wir dann die Musik auf, und abends gingen wir an den Strand. Die Sterne waren alle draußen und funkelten, und ich hatte ein Mikrofon mit einem ganz, ganz langen Kabel un einen kleinen DAT-Recorder. Ich konnte über den ganzen Strand rennen. Es war so dunkel, daß die anderen mich fast nicht mehr sehen konnten, und so war es fast, als ob ich ganz alleine war.

Ich zog meine Schuhe aus - das waren übrigens die hier." Björk unterbricht sich kurz und zeigt auf die ehemals weißen, jetzt in Ehren ergrauten Joggingschuhe mit neonfarbenen Streifen."Ich rannte hinein in die Wellen und wieder heraus. Ein paarmal habe ich die Schuhe dabei auch anbehalten, deswegen sehen sie jetzt so ramponiert aus. Ich legte mich beim Singen auch oft ganz dicht auf den Boden, weil die Nähe der Erde den Klang der Stimme auch sehr beeinflußt. Ich lag ganz still und sang."

Für die Produktion verließ sich Björk auf bewährte Kollegen. Wie bei "Debut" hat auch auf "Post" Nellee Hooper einen großen Teil der Produktionsarbeit übernommen, und auch Graham Massey von 808 State war wieder mit von der Partie, um ein paar Songs mit Björk zu schreiben, unter anderem auch die erste jetzt erschienene Single, "Army Of Me". Außerdem arbeitete Björk für "Post" aber auch mit Tricky zusammen, der sich seit den Zeiten mit Massive Attack in letzter Zeit zum angesagtesten Kultstar der britischen Clubszene gemausert hat. Der exzentrische Klangtüftler und die unkonventionelle Sängerin ergänzten sich ideal.

"Die Arbeit mit Tricky war wunderbar", erzählt Björk. "Ich verliebe mich manchmal in die musikalische Seite eines Menschen, und manchmal kann ich die andere Hälfte werden -" sie hält einen Augenblick inne. "Das ist so schwer auszudrücken, wie sagt man das am besten... Manche Leute machen wunderbare Musik, aber noch fehlt etwas, und dann kann ich manchmal das Fehlende ergänzen, ganz egal, ob als Sängerin, Produzentin oder Songschreiberin. Ich mag das sehr, das ist wie ein kleines Spiel. Ich kann mich überall zu Hause fühlen, auch auf fremden Gebieten. Ich bleibe trotzdem immer ich selbst."

Das Einarbeiten in diese fremden Gebiete, das Betreten neuer Reiche ist Björk schon seit Jahren vertraut. Eine klassische Musikausbildung ergänzte die ersten musikalischen Eindrücke, die Björk zu Hause gewann, wo ihr Vater den ganzen Tag Gitarrensoli spielte und Jimi Hendrix oder Grateful Dead hörte und wo ihr Großvater sie mit Jazz in Berührung brachte. Sie selbst sang und spielte dann bei isländischen Punkbands, sie schrieb Musik für Filme und Theaterstücke, sie produzierte Heavy-Metal-Bands. Sie ist für jedes Risiko, jede neue Idee offen und hat darüber hinaus auch in puncto Menschenführung mittlerweile ihre Erfahrungen gemacht.

"Tricky ist davon besessen, als unberechenbar zu gelten." ein spitzbübisches Leuchten zieht über Björks Eskimo-Gesicht: "Ich liebe solche Leute. Wenn ich einen richtig sanften Song wollte, sagte ich: Tricky, laß uns diesen Song richtig aggressiv, ruppig und gräßlich machen. Und er sagte dann aus Prinzip Nein und machte einen ganz zerbrechlichen Song daraus."

Mit Graham Massey war das ganz anders. "Er ist ein entspannter, glücklicher Tzp, und es ging alles sehr einfach, sehr ineinander verzahnt, so wie bei Bruder und Schwester, sehr gleichberechtigt. Man kann auch gar nicht sagen, wer dabei eigentlich was gemacht hat. Ich habe eine Taste gedrückt und er die andere, das ging Schlag auf Schlag."

Wieder anders war die Arbeit mit Nellee Hooper. "Er ist ein sehr distanzierter Produzent. Aber so geht er auch mit dem Leben um. Er läßt dich spielen, dann sagt er: Das ist nicht gut, das ist nicht gut, und das ist nicht gut - das ist gut. Er hat ein Gespür für die besten Dinge. Ich bin stolz, daß er mich ausgewählt hat. Wir haben uns zufällig getroffen, und er wollte mit mir arbeiten. Es spornt mich an, daß er so sehr, sehr hohe Standards hat, daß er schwer zufriedenzustellen ist. Er bringt das Beste in mir zum Vorschein, nur dadurch, daß er einfach dasteht und sehr pingelig ist. Ich habe ganz unglaubliche Texte in seiner Nähe geschrieben. Sachen, von denen ich gar nicht wußte, daß ich dazu in der Lage bin."

Zu den Songs, die zusammen mit Nellee Hooper entstanden, zählt auch "Isobel", ein episch arrangiertes Werk, das nach einer Orchesterfanfare in einen swingenden Beat übergeht. Isobel scheint sehr mti sich beschäftigt, sucht aber trotzdem Kontakt zur Außenwelt - hin- und hergerissen zwischen der Erfüllung im eigenen Selbst und dem Wunsch nach Zugehörigkeit.

"Ja. Das ist sehr wahr. Hm. 'Isobel' ... Ich will dazu eine kleine Geschichte erzählen. Ich habe den Song 'Isobel' genannt, weil es auch isoliert heißt. Nicht Isabel. Isobel ist ein Mädchen, das im Wald geboren wird, aus einem Funken. Sie hat weder Vater noch Mutter - sie ist aus dem Feuer, aus der Natur geboren. Sie ist ein Symbol für Intuition und Instinkt. Als sie mit der Realität der modernen Welt in Kontakt kommt, führt das zu Konflikten, weil alle anderen mit ihrem Gehirn arbeiten. Sie ist sehr grausam zu anderen, aber nicht mit Absicht, sie meint es gut. Aber sie verliebt sich prinzipiell in die falschen Leute und bekommt viele Probleme. Dann isoliert sie sich, sie heiratet sich selbst."

Stoff wie aus einer isländischen Saga. Vielleicht wird hier fühlbar, daß Björk die Texte für ihre Songs immer noch in Isländisch schreibt, um sie dann erst ins Englische zu übersetzen.

"Das Isländische hat so viele interessante Geräusche." Björk sagt "noises" mit zwei ganz feinen, scharfen S's. "Wenn ich au Isländisch Texte schreibe, geht es mir nicht nur um den Inhalt, sondern auch darum, wie es sich anhört. Ich nehme dann zum Beispiel Worte wie 'kristekratna'." R's und K's reiben und kratzen kraftvoll aneinander. "Im Englischen geht es eher um die Bedeutung. Ich kann daher eine Geschichte besser auf Englisch erzählen. In Isländisch geht es mehr um die Gefühle."

Und so steht Isländisch für das Gefühl und Englisch eher für die Vernunft - ein Gegensatz, den Björk in ihrer Musik auf vielen Ebenen miteinander verbindet. In "Modern Things" werden die neuzeitlichen Maschinen zu beseelten Dingen, die es schon ewig gab, die jedoch in einer Höhle auf die rechte Zeit gewratet haben, um in Erscheinung zu treten. Eben wieder Björk - zu jedem Ding gibt es eine Geschichte.

Sie selbst sagt von sich, sie sei viel zu sehr von dem Wunsch geleitet, clever sein zu wollen, obwohl immer dann, wenn sie nicht ihrer Intuition, sonden ihrem Verstand folgt, etwas schief geht - genau umgekehrt wie bei Isobel. Das Unerklärliche und die Ratio stehen in stetigem Widerstreit miteinander, scheint es. Bei so viel Philosophie kann man nur die Gretchenfrage stellen:

Wie hälst Du's mit der Religion?

"Ich habe meine eigene Religion", sagt Björk und lächelt. "In Island hat jeder Mensch seine eigene Religion. Die UNO hat einmal eine Umfrage machen lassen, weltweit, und unter vielen anderen Standardfragen war: 'Woran glauben Sie?'. Alle Welt antwortete Allah, Buddha oder Jesus oder sonst wer, und die Isländer sagten alle: an mich selbst. Die Menschen in Island sind sehr spirituell. Sie denken: Es kann gar nicht sein, daß ich an dasselbe glaube wie du. Sie sind sehr individualistisch."

Der spirituelle Einfluß kommt in Björks Songs in der Tat deutlich zum Tragen. Allerdings zieht sie auf diesem Gebiet scharfe Grenzen. "Ich halte nichts von Klischees. Bei Spiritismus udn Mzstik geht es um Dinge, die man nicht sehen kann. Da ist es doch albern, eine Kristallkugel oder ein Päckchen Tarotkarten hervorzuholen und zu sagen: Das hier, das ist mzstisch. Dann ist es ja eben nicht mehr mzstisch. Leute, die sich mit Okkultismus beschäftigen, kotzen mich an. Okay, sie sagen, es gibt mehr, als das Auge sieht. Aber warum muß man sie analysieren und aufmalen und festhalten? Damit beleidigt man diese mystischen Dinge und setzt sie herab, wenn man sie ins Licht zerrt und erklären will. Man sollte sagen: Ich weiß, daß ich die Welt zu 99% nicht erklären kann, und ich respektiere das."

Dann bricht aber wiede die Ration durch: "Andererseits: Viele Dinge sind auch einfach ein Fakt. Zum Beispiel, daß jeder Mensch eine Aura hat. Es gibt diese Fotografien, auf denen sie zu erkennen ist. Ebenso wie die Chakren. Jeder Mensch hat sieben Energiezentren, und auch die kann man auf solchen Aufnahmen sehen. Jeder dieser Punkte steht für einen bestimmten Begriff - der Hals steht zum Beispiel für Freiheit. Und das scheint mir einfach vernünftig zu sein. Für andere Leute mag das anders sein, das ist nur natürlich. Aber für mich scheint das vernünftig."

Björk hat unzweifelhaft ihre eigene Vernunft, ihre eigenen geistigen Gesetze, die sie unaufdringlich, aber unverrückbar postuliert. Mit ruhiger Selbstsicherheit erzählt sie von Dingen, über die man nachsichtig lächeln würde, wenn der beste Freund damit ankäme. Bei Björk will das Lächeln irgendwie nicht so recht kommen. Sie spricht so selbstverständlich von bizarren Begebenheiten, daß dem kühlsten Verstandesmenschen Zweifel kämen. Da ist zum Beispiel die Sache mit der Motte, die noch zum Song "Isobel" gehört.

"Nun, eines Morgens, das ist jetzt vielleicht einen Monat her, kam eine Motte angeflogen und landete hier auf meinem Hemd", sagt sie und deutet auf eine Stelle knapp unterhalb des Kragens. "Sie blieb den ganzen Tag sitzen. Sie blieb sogar dort, als ich das Hemd auszog, weil ich schwimmen ging. Sie blieb hier sitzen, und jedesmal, wenn ich mit Leuten zu tun hatte, die ich nicht mochte, kroch sie unter meinen Kragen. Sie blieb den ganzen Tag bei mir. Am Abend habe ich das meinem besten Freund Shaun erzählt, und er lachte, denn er kennt mich sehr gut. Er sagte: 'Diese Motte kommt aus dem Unerklärlichen. Und sie will dir sagen: Hör auf, immer alles verstehen zu wollen. Wir sollen nicht verstehen. Es gibt keine Logik.' Wenn ich versuche, clever zu sein, sagt also meine Motte: Neinneinneinneinnein. Sei dumm. Es gibt keine Logik. Versuche nicht, clever zu sein, das macht alles kaputt.

Danach haben wir den Text von 'Isobel' geschrieben, Shaun und ich. 'Isobel' wurde isoliert, weil alle anderen so clever sein wollen. In ihrem Zimmer hat sie viele viele Motten, und die sendet sie aus in die Welt. Sie fliegen in die Fenster der Menschen und setzen sich auf ihre Hemden und sagen ihnen, daß sie aufhören sollen, alles verstehen zu wollen. Hört auf zu verstehen, habt einfach Spaß. Sie kommt und sagt Nein, no no no no no no."

Björk verfällt in einen Singsang: "Nanananana... Das hört man auch in dem Song. Nananananana. Es ist die Motte, das Unerklärliche."

Was geschah zum Schluß mit deiner Motte?

"Sie flog wieder weg", sagt Björk. "Aber", setzt sie dann lächelnd hinzu, "sie war mir eine große Hilfe."

 


Björk

"Post"
(Polydor)

"Post", das zweite Soloalbum der isländischen Ausnahmesängerin, ist eine lineare Weiterführung des vor zwei Jahren erschienenen "Debut". Zwischen Dancefloor und Mystik ist Björk jedes Stilmittel recht, um ihre Stimme in Szene zu setzen, und mit Produzenten wie Tricky, Nellee Hooper und Graham Massey ist ihr das auch ein zweites Mal brillant gelungen.

"Post" beginnt mit dem schwerfällig stampfenden "Army Of Me", das blitzschnell eine synthetische Kälte aufbaut. Björk hält sich hier mit Vokaleskapaden zurück und verstärkt so den Eindruck von Unbarmherzigkeit. Die nächsten Songs sind sanfter, atmosphärischer, bis dann schlagartig alles wieder ganz anders wird: "Shhh", macht Björk, als säße sie irgendwo versteckt im Zimmer. "Shhh!", und dann bricht das Orchester einer Nachkriegs-Shownummer aller erster Güte über uns herein. Höhepunkt des Albums: das epische, aufwendig orchestrierte "Isobel", dessen musikalische Umsetzung dem mythischen Inhalt des Titels mehr als gerecht wird. Björk zeigt sich bei Wechselbädern wie diesen ebenso wandelbar wie konstant - sicherer, konventioneller Gesang liegt ihr ebenso wie das schrille Kippen über gewagte Toneskapaden, aber eines wie das andere trägt stets unverkennbar ihre Handschrift. Trotz aller gesanglicher Experimente klingt nichts davon nach billiger Angeberei, nichts von dem Mariah Carey-"Guckt-mal-was-ich-alles-kann"-Gehabe. Björk bleibt erstaunlich greifbar, ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, fast zum Anfassen nah und trotzdem abgehoben weit weg. Leich zu erschließen ist "Post" nicht, eher schwierig und zuzeiten anstrengend, aber enorm spannend und jede Mühe wert, die man damit haben mag.

Kiki Borchardt