Spex 5/95
Björk - Experiment Pop
Text: Jörg Heiser
Pictures: Björn Opsahl
Diese Frau hat man wohl ein wenig unterschätzt: Seit ihrer Zeit bei den Sugarcubes galt Björk
Gudmundsdottir als ewige New Waverin im Elfengewand, die in aufwendig inszenierten Videos auf
den Exotenbonus und die latente Lust am Kindersex spekuliert. Ihr neues Album führt solche
Zuweisungen ad absurd um: Mehr noch als Björks Solo-Debüt ist "Post" eine extrem reflektierte
Annäherung von Pop an Dancefloor, ohne den Pesthauch von Crossover oder Euro-Pop zu verströmen.
JÖRG HEISER traf Björk standesgemäß im Parkhotel Schloß Eckberg zu Dresden.
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Parkhotel Schloß Eckberg, Dresden,
im Taxi auf der Fahrt dorthin im Vorbeifahren
ein großes Baustellenschild: "Plattenbauweise
ist besser als ihr Ruf".
Ob es ihre Idee gewesen sei, die Interviews
für den deutschsprachigen Raum
in diesem Schlößchen am Elbufer zu geben?
Nein, antwortet Björk Gudmundsdottir,
das wäre ein Vorschlag der Plattenfirma gewesen.
Im Treppenaufgang hängt noch eine rustikale Holztafel, aus der
ersichtlich wird, daß es sich um ein ehemaliges 'Jugendbegegnungszentrum'
der FDJ handelt Jetzt kann man hier superabgefahrene Fotosessions für
bunte Magazine machen, Schloß macht sich gut, wenn man mal wieder das
Wort "Eisprinzessin" für Björk, die singende
Isländerin, verbraten will. Und Dresden - gegen so eine Nicht-Metropole
mit komisch verquaster Mischung aus realsozialistischen Reminiszenzen und
Wiedervereinigungs-Restaurations-Terror hebt sich ein Popstar leichter ab
als gegen irgendein London oder New York.
Dennoch fällt es mir extrem schwer, an diesem Tag im April mehr als
dieses leichte Unbehagen über den Ort meines Zusammentreffens mit
Björk Gudmundsdottir zu verspüren, denn das Zusammentreffen selbst
ist anregend, aufschlußreich. Als ich später auf dem Weg zur
Straßenbahn in die Dresdner Innenstadt den Walkman einschalte und
"Army Of Me", der Opener ihres neuen Albums "Post",
losdonnert, merke ich, wie ich das schon gar nicht mehr getrennt hören
kann von dem plastischen Bild ihres Denkens und ihrer Arbeitsweise, den
ich im Gespräch gewonnen habe. Ich finde jetzt rückhaltlos alles
gut, was sie macht, wahrscheinlich zu rückhaltlos.
Nicht einmal mehr den Kindersex-Vorwurf kann ich stehen lassen.
Also: Abstand kriegen! Klingen die Beats und Sounds nicht auch ein
bißchen zu amtlich, hat das nicht auch so einen Zug von Art Of Noise?
Ist das hier Psychoakustik-Overkill? Haben die Texte nicht doch zu viele
Pippi-Langstrumpf-Romantizismen? Aber es gefällt mir. Und wenn ich
"Welcome To Tomorrow" von Snap gut finden kann, geht das mit
"The Modern Things" von Björk erst recht. Und es geht noch
mal so gut, wenn ich weiß, daß Björk genau weiß, was
ihre Musik von Dancefloor unterscheidet.
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EIN VOGEL MIT
SIEBEN FEDERN |
Das ist doch gleich eine Neuigkeit, die den Teil der 'kritischen'
Undergroundmusik-Hörerschaft, der schon immer ein Problem mit
Björk zu haben müssen glaubte (und zu dem zählte
ich auch mal, denn von den Sugarcubes gefiel mir nur ein Song, nämlich
"Birthday"), besänftigen wird: Björk wird im Juni mit
den Beastie Boys aufnehmen.
In welcher Form wird das Ergebnis dieser Zusammenarbeit veröffentlicht werden?
"Wissen wir noch nicht. Wir werden es
einfach machen und hinterher entscheiden, wofür es ist."
Was erwartest du, wie es werden wird? Die Beastie Boys haben ja eine andere
Arbeitsweise als du.
"Ich bin mit sehr vielen verschiedenen
Arbeitssituationen vertraut. Ich war fast zehn Jahre an der Musikhochschule,
ich habe Klassik-Proben gemacht, ich war in Punkbands,
ich habe eine Heavy.Metal-Band produziert, ich habe Streicher-Arrangements
geschrieben, ich habe mit anderen Leuten zusammen Texte und Songs gemacht, ich
schreibe alleine Songs. Das klingt jetzt alles ziemlich angeberisch, aber
durch diese vielen Erfahrungen kennst du deine Stärken und Schwächen.
Und ich habe sicherlich viele Schwächen, eine davon ist, daß ich
mich schnell langweile. Meine größte Stärke ist aber eben,
daß ich immer jeweils so arbeiten kann, wie der Song es verlangt.
Ich habe für mein Album zwei Songs mit Tricky geschrieben, zwei mit
Howie B., zwei mit Graham Massey, einen mit Nellee Hooper - und jedesmal ist
es eine völlig andere musikalische Beziehung. Normalerweise lasse ich
sie erst mal machen, um zu sehen, welches Vorgehen sie gewohnt sind. Was die
Beastie Boys angeht, werde ich nach L.A. gehen und mit ihnen in ihrem Studio
arbeiten, mit dem sie vertraut sind. Ich werde hinkommen, erst mal schauen,
was sie machen, und dann die andere Hälfte werden. Ich hatte ein langes,
sehr gutes Gespräch mit Mike D., in dem er mir erklärte, wie sie
arbeiten: daß sie jammen und jammen, bis sie auf etwas Gutes
stoßen. Während meiner Punkphase war ich auch in Bands, in denen
Stücke so entstanden sind."
Haben die Leute, mit denen du für "Post"
zusammengearbeitet hast, jeweils eigene Demos und Tracks gemacht, oder habt
ihr von Anfang an gemeinsam an einem Stück gearbeitet?
"Die Arbeit an 'Post' verlief
völlig anders als bei meinem ersten Solo-Album, das ich in Island
vorproduziert und anschließend mit Hilfe von Nellee Hoopper in die
endgültige Form gebracht hatte. Denn der Grund, warum 'Debut' mehr oder
weniger im Alleingang entstanden ist, lag einfach in dem Umstand, daß
ich in Island schon mit allen Musikern, die in Frage kamen, gearbeitet hatte.
Vor zwei Jahren bin ich nach England gezogen - und plötzlich ein ganzes
neues Land voll mit lauter aufregenden Leuten. Letztendlich habe ich mit sieben
verschiedenen Leuten zusammengearbeitet, natürlich auch wieder mit Nellee.
Er ist ein Genie. Die Songs, die er produziert hat, waren diejenigen, bei denen
ich genau wußte, was ich wollte: Ich konnte alles genau beschreiben,
die Struktur, die Geräusche, alles. Er kommentierte dann diesen Entwurf
und machte den Sound. Du kannst ihm sagen: 'Sei sehr präzise, ich
möchte einen Vogel mit sieben Federn!', und er wird das hinkriegen.
Er tendiert etwas zum Polieren, deshalb mußte ich ihn stellenweise
zurückhalten, weil ich die Platte sehr energetisch haben
wollte."
"Mit jemandem wie Tricky ist es völlig anders: Ich habe ihn
kennengelernt und festgestellt, daß er ein sehr starker Charakter ist.
Er hat sein eigenes Königreich: Er besucht andere Leute nicht - du
besuchst ihn. Das ist kein Problem für mich. Es ist vielleicht nicht
nett, das zu sagen, aber jemandem wie ihm mußt du das Gefühl geben,
daß er alles kontrolliert, selbst wenn du die Entscheidungen triffst,
und du tust das, damit der Song gut wird, nicht für dich
selbst."
"Tricky neigt dazu, der Welt den Rücken zuzukehren. Seine Musik
ist auch so. Also so (Björk dreht mir den Rücken
zu). Meine Rolle ist die einer
Übersetzerin: Ich übersetze und erkläre (dreht
sich zum imaginären Tricky und zu mir).
Meine Art zu singen ist ziemlich eye to
eye."
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EXPERIMENT
POP |
Björks Zusammentreffen mit englischer Dance-Music begann noch
zu Sugarcubes-Zeiten: Mit 808 State nahm sie 1991 die Maxi
"Ooops" auf. Ein früher Blueprint für ihren
späteren Umgang mit Dance-Elementen für/als/mit dem Popformat. Mit
Graham Massey von 808 State hat sie auch für "Debut"
zusammengearbeitet und nun wieder.
"Wir sind seit fünf Jahren befreundet.
Wir arbeiten sehr entspannt und ausgelassen zusammen. Er macht etwas,
ich setze etwas darauf, sehr gleichberechtigt, sehr ausgeglichen."
Massey nimmt für Björk des öfteren Tapes mit seinen
Lieblingssongs auf, quer durch den Garten, alte Bacharach-Schmachtfetzen und
Filmmusiken, Psychedelia, all das, woraus sich das Soundreservoir moderner
Popmusik speist. Eines dieser Tapes hat Björk auf ihrem Ghettoblaster
laufen, den sie nur für die Dauer des Interviews abstellt.
"Headphones", das letzte Stück
auf "Post", handelt indirekt von dieser Art, einen Bezug
zueinander über Musik herzustellen."
"Eines meiner liebsten Dinge ist, wenn du von einem Freund eine
Kassette geschickt bekommst, auf der er seine Lieblingssongs
für dich zusammengestellt hat. Du hebst sie dir bis zum Abend auf, und
wenn du ins Bett gehst, setzt du die Kopfhörer auf, hörst sie dir
an und schläfst ein."
Das betreffende Stück hat Björk allerdings zusammen mit Tricky
gemacht Die halbwachen Zustände, die sich im
Kopfhörer-Stereo-Panorama ausbreiten, finden in dessen Umgang mit
fluoreszierenden Geräuschen und tranquilen Beats natürlich ihre
perfekte Entsprechung - und in Björks eigener Art,
Melodiefragmente in den musikalischen Raum aufzufächern.
"Ich verstehe mich als eine Musikerin,
die Popmusik für jetzt macht. Um das zu tun, muß ich alle
Geräusche des Alltags, des Lebens benutzen. Wenn
du in Köln oder wo du wohnst die Straße hinuntergehst -
alle Geräusche, die du hörst: das sollte die
Popmusik von 1995 sein. Autos, Wind, Regen,
Hunde, Tauben, menschliche Stimmen - all das ist
mein Material. Das bestimmendste Geräusch von
heute ist wahrscheinlich das des Telefons oder das
des Faxgeräts. Ich möchte Musik machen, die so
real wie möglich ist und so modern wie möglich -
aber immer noch Popmusik ist. Das ist eine Entscheidung, die ich sehr
früh getroffen habe. An der
Musikhochschule waren sehr viele Leute, die von
dem Gedanken besessen waren, spezifisch und experimentell zu sein.
Das ist etwas Schönes, und oft
kann mich so eine Musik retten. Aber für mich
wäre es zu einfach, solche Musik zu machen. Es
wäre einfach für mich, in einer Ecke zu sitzen und ein Doppelalbum
mit einem Löffel aufzunehmen. Oder Musik für vier Saxophone zu
komponieren. Mein Ziel ist es - und ich sage nicht, daß ich das bereits
erreicht habe -, Popmusik zu machen, die jeder verstehen kann, die aber
trotzdem experimentell ist und die du noch nie so
gehört hast. Ich glaube nicht, daß man das Experimentieren
für Pop opfern muß."
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HUMANOID -
TECHNOZID |
Die Geschichte mit den Geräuschen
auf der Straße ist bereits von John Cage überliefert,
aber bei Björk tritt dem mindestens gleichberechtigt der Pool
aus Melodiefragmenten
und Harmoniefolgen zur Seite, der sich bei den meisten seit frühester
Kindheit durch die Berührun mit Zeichentrickfilmem, Hollywood-Musicals
und natürlich mit Pop und Schlagern angesammelt hat.
In "Possibly Maybe" von "Post" hört man
die Disney-Definition von Unterwasser-Sirenen-Melodien im Backgroundgesang, und
mit dem originalgetreu re-inszenierten "Blow A Fuse", einem v
ergessenen Swing-Hit der vergessenen Hollywood-Schauspielerin Betty Hutton,
kommt diese Referenz auch als komplettes Zitat ins Spiel. Im Grunde genommen
fußt die schlimmste Techno-Exploitation von Schlagern und Musical-Hits
auf dem gleichen Prinzip - nur wird eben einfach vermengt und beschleunigt,
die altbekannte Melodie als schnelle Fahrkarte ins popgeschichtliche
Innenohr benutzt (was im besten Fall noch einen flüchtigen Trash-Reiz
hat). Während Björk sich die Mühe macht,
die Referenzen aufzufächern, die
Spannung aufrechtzuerhalten: die nichtsprachliche Dance- und die
kindersprachliche Popwelt nicht einfach ineinander kollabieren zu lassen.
"Es gibt viele Leute, die denken, daß
ich Dance-Music benutze, um sie mit meiner Stimme 'menschlicher' zu machen.
Das ist überhaupt nicht so. Zu Dance-Music tut
man etwas anderes, zu Dance-Music will man schreien und tanzen, viele
Drogen nehmen, trinken oder was auch immer. Deshalb muß
sie kalt und repetitiv sein, das ist ja
der Punkt.Erst die Reaktion der Leute auf die Musik ist das 'menschliche'
Element."
Ich habe mich in letzter Zeit des öfteren gefragt, warum mir 'kalte',
repetitive, spröde Tracks von Jeff Mills oder Cristian Vogel so
unendlich viel herzerwärmender und euphorisierender und
körperlicher vorkommen als viele House-Sachen, die das Herzerwärmende
im abstrahierten Soul-Partikel abbilden, der sich durch den Track loopt.
Die Antwort: eben weil sie nichts abbilden, keinen Imperativ des
Ausgelassenseins in sich repräsentieren und mir damit erst die Struktur
geben, in die ich das selbst projizieren kann. Das geht wiederum nur -
und das ist das andere Extrem -, wenn diese technoide Strukturhaftigkeit
sich nicht wiederum im Track als Robotästhetik zerrspiegelt, sich
also nicht zum Imperativ macht. Björk bringt all das auf den Punkt;
und begründet damit, warum sie ihre Musik nicht als Dance-Pop versteht,
sondern als Pop, der mit dem Material Dancefloor arbeitet.
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FREIHEIT MACHT
ARBEIT |
Damit die Aufgabe, Dancefloor auszunutzen, ohne ihn auszubeuten,
gelingen kann, muß die Formel, mit der das geschehen kann, ziemlich
komplex angelegt sein. Man kann nicht einfach einen Dance-Track nehmen,
dann einfach so einen Björk-Vocal drüberziehen.
"Post" steht in der Spannung zwischen dem persönlichen
musikalischen Entwurf von Björk und den jeweilig Kollaborierenden,
die sich selbst schon an der Grenze von Dance zu Pop bewegen. Wie kommt
das zusammen, ohne zum generalstabsmäßigen Exerzitium zu werden?
"Ich
bin mit der anarchischen Punk-Attitude groß
geworden, daß keiner den anderen kontrollieren soll.
Aber um meine eigene Musik zu machen, muß ich
Leute auf Stühle setzen und sagen: Du machst das,
und du machst das! Das ist eigentlich nicht mein Stil,
aber nach einer Zeit habe ich festgestellt, daß ich das
auch nicht so wörtlich nehmen muß. Weil die Leute,
mit denen ich zusammenarbeite, immer noch alle Freiheit
der Welt haben. Und die Tatsache, daß ich mit ihnen
und nicht jemand anderem zusammenarbeite, hat
damit zu tun, daß sie diese Freiheit nutzen können.
Wenn man einem viele Limitierungen auferlegt - es
muß sieben Flecken haben, es muß grün sein, es muß
drei Beine haben -, wenn man die Leute also sehr einschränkt,
dann haben sie erstmal nur dieses eine kleine
Loch zum Durchgucken, um zu arbeiten. Läßt man
sie aber machen, führt dann die einzelnen Elemente zusammen,
fokussiert sie und geht dann erst straight durch dieses Loch, dann
kann das sehr kraftvoll sein."
"Diese Erfahrung habe ich auch selbst gemacht, als ich den Song
'Play Dead' für diesen Film mit Harvey Keitel schrieb
('Young Americans' von Danny Cannon, d. Verf.).
Der ist nach der Fertigstellung von
'Debut' entstanden, wo ich alles machen konnte, was immer ich wollte,
und dann kam da plötzlich dieser Song. Die Orchestrierung
war schon aufgenommen, und ich mußte den Text aus der Perspektive
eines Protagonisten im Film schreiben. Ich habe mich drangemacht, und
plötzlich hatte ich fast so eine Art Freiheitsschock. Die Struktur
war schon aufgebaut. Ich mußte praktisch nicht erst ein Haus
konstruieren und bauen, sondern das Haus war schon da. Ich
mußte nur reingehen und der Protagonist sein."
Du meinst die Freiheit, innerhalb einer bereits existierenden
Struktur spielerisch zu arbeiten, gegenüber der Aufgabe,
eine völlig neue Struktur aufbauen zu müssen?
"Es ist eine
Stärke und eine Schwäche zugleich, daß ich ständig
zwischen diesen Arbeitsweisen wechseln will. 'Okay, ich war bis eben die
Sängerin, nun möchte ich... nun möchte ich... der
Tontechniker sein!'"
Indem und wie Björk das ausspricht, weist sie die Richtung auf einen kindlichen (nicht
kindischen), sozialen Polymorphismus, der spontan zwischen der Ausmalung von
neuen, 'unmöglichen' Rollen und der Einübung von standardisierten Praxen pendelt.
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KRITISCHER
ANIMISMUS |
Womit wir beim Thema Kindchenschema wären. Man kann von Björk wohl kaum
verlangen, daß sie ihr Gesicht verbirgt, um die päderastische Wahrnehmungsweise
nicht mehr auf ihre Kosten kommen zu lassen. Man könnte aber von ihr verlangen,
daß sie diese Kind-Aura nicht mehr so bereitwillig ausspielt und auf Leinwand-Format
bringt wie im Video zu "Venus As A Boy".
Doch womöglich läßt sich gerade an dieser Stelle ein gefährliches, aber edles
Vorhaben ablesen: Wo bei den Rrriot Grrrls darauf referiert wird, daß Mädchen noch
nicht endgültig in die heterosexuelle, patriarchalische Normierungsmaschinerie
eingefügt sind und daß man diesen Zustand als Widerstandspotential ganz gerne ins
'Erwachsensein' verlängern und behaupten möchte, geht Björk praktisch noch eine
Stufe weiter zurück: In ihren Texten und Images tauchen Elemente von kindlichem
Synkretismus (eine Wahrnehmung, die umfassend und fragmentarisch zugleich ist,
welche die normative Abstufung von Detail und Gesamtstruktur, von wichtig und
unwichtig, von Ich und Anderem über den Haufen wirft) , kindlichem Animismus
(Gegenstände, die als denkend, lebend gedacht werden) und kindlichem Polymorphismus
(die Unentschiedenheit und Vielgestalthaftigkeit von Begehren) auf.
Wenn sie im Video zu "Venus As A Boy" Spiegeleier kocht, dann wird dem Einüben
von Frauenrollen dadurch das Gewicht genommen, daß das Spiegelei als sinnliches
Objekt 'kindlicher Neugier' interessanter wird als die Handlung des Bratens.
In "The Modern Things" haben die modernen Dinge, "like cars and such", schon
immer in den Bergen auf ihren Moment gewartet, "listening to the irritating noises
of dinosaurs and people". Dieses "was wäre, wenn..." hat natürlich auch etwas
Eskapistisches, denn jede kindliche Imagination wird nach und nach eben doch in
normierte Bahnen gelenkt. Björk spricht und singt dabei aber natürlich als Erwachsene
(sie hat übrigens einen neunjährigen Sohn). Und die Weise, wie sie im Text zu
"Hyper-Ballad" Dinge eine Klippe hinunterwirft, um zu hören, welche Geräusche
sie im Fallen machen, beansprucht auch das Ausprobieren und die Neugier als Lebensprinzip
("jetzt möchte ich... der Tontechniker sein").
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Wenn du in Köln oder wo du
wohnst die Straße hinuntergehst -
alle Geräusche, die du hörst: das
sollte die Popmusik von 1995 sein |
Das ist bei Björk nicht nur Forderung, sondern eine Praxis,
auch eine Praxis der Selbstbeschreibung.
"Ich habe eine Zeitlang
versucht, die einfachste mögliche Erklärung dafür zu
finden, wie ich mich fühle. Manchmal ist es einfacher, ein Gefühl
zu beschreiben, indem man es mit etwas anderem vergleicht. 'Wie
fühlst du dich heute?' - 'Nun, ich fühle mich so, als sollte
ich jeden Morgen zu einer Klippe gehen und dort Sachen herunterwerfen.' -
'Oh, du fühlst dich so? Ah ja, okay'. Du verstehst es."
Bleibt das Problem, was passiert, wenn sich der Polymorphismus des
Begehrens, der sich in all dem auch kodiert ausdrückt, beim Hörer
via Kindersex in ein päderastisches Begehren übersetzt.
"Unglücklicherweise
werde ich von Interviewern oft gefragt, wie ich mich als
Sexsymbol fühle. Ich kann da nur den Kopf schütteln.
Man fragt mich, was ich darüber denke, daß Leute im Publikum
sind, die kommen, weil sie mich sexy finden. Nun, das ist ihr Problem,
oder wie immer man das nennen will. Das ist etwas, was sie sehen.
Ich singe einen Song, und wenn das als etwas anderes bei ihnen ankommt -
ich kann das nicht kontrollieren. Ich möchte es auch nicht kontrollieren,
mir gefällt es, daß Leute aus den unterschiedlichsten
Gründen zu einem Konzert kommen."
Also in Kauf nehmen, daß es diese Wahrnehmungen gibt, aber
nicht dafür aufgeben, mit dem produktiven, aktiven Anteil von
Kinderkram zu arbeiten.
"Ich weiß, daß
ich dieses Kinder-Ding habe, ich sehe Fotos von mir und sehe es.
Aber ich bin mir dessen nicht in jedem Moment bewußt Von sehr
früh an mußte ich mich um mich selbst kümmern. Schon
sehr jung zog ich mich selber an, machte mir Essen, ging zur Schule.
Ich wurde praktisch zu zwei Personen. Ich sagte mir: Zieh dir Socken an,
damit du dich nicht erkältest. Und jetzt solltest du was essen.
So habe ich mich um mich selbst gekümmert. Ich bin heute noch ein
wenig so. Ich habe einen Idioten in mir, der den Löffel nimmt
(nimmt den Löffel aus der Zuckerdose auf dem Tisch und
wirft ihn über die Schulter in den Raum),
und ich sage dann: Hör auf damit! (steht auf und hebt
den Löffel wieder auf). Weil ich
so früh ein Erwachsener wurde, wurde ich eine sehr organisierte,
verantwortungsvolIe Person. Ich machte meine Hausaufgaben und wusch meine
Kleider. Mit vierzehn mietete ich ein Haus, alle meine Freunde lebten da,
ich machte Jobs, war in der Schule, war in einer Band. Auf gewisse Weise
leite ich eine Firma, und ich habe zwanzig Leute, die für mich
arbeiten - besser gesagt, wir arbeiten zusammen. Ich kann all das tun und
gleichzeitig (wirft den Löffel wieder in den
Raum) der Idiot sein."
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VERTRAUEN IST GUT - KONTROLLE AUCH NICHT SCHLECHT |
Ziehst du, was die Kontrolle über das eigene Pop-Projekt
auf der ökonomisch-sozialen Seite angeht, Parallelen zu Madonna,
die ja auch möglichst viele Fäden in der Hand behalten
möchte?
"Es
geht bei ihr um Macht und Respekt. Es ist auf gewisse Weise sehr
Achtziger-mäßig, Macht für das Wichtigste und das
größte Aphrodisiakum zu halten. So etwas langweilt mich zu
Tode, um ehrlich zu sein. Ich denke, daß für mich Freiheit das
größte Aphrodisiakum ist. Ich übe keine Kontrolle
über Leute aus. Ich habe langjährige Arbeitsverhältnisse mit
Leuten, wie beispielsweise zu dem Typ, der meine Albumcover macht: Wir
arbeiten zusammen, ich traue ihm hundertprozentig, aber wir treffen uns,
und ich schaue mir alles an. Ich besuche ihn einmal pro Woche,
das ganze Jahr über, um sicher zu gehen, daß er weiß,
was mir durch den Kopf geht. Er macht seine eigene Sache, aber es ist
nie ein Albumcover rausgegangen, bei dem ich nicht alles vorher gesehen
habe. Dabei geht es nicht um ihn, es geht nicht um mich, es geht um die
Sache, die wir gemeinsam machen. Ich bin kein Kontroll-Freak,
weil es sonst keine überraschungen gäbe."
Freiheit als Aphrodisiakum? Das ist natürlich genauso richtig
und falsch wie Macht als Aphrodisiakum. Ziemlich Hippie-mäßig
klingt das, verschleiernd in Bezug auf den unvermeidlichen Faktor Macht
in Kollektivität. Die Alt-68er-Definition von modernem Management
Andererseits geht es hier um mehr als um die Herstellung von Waren.
Es geht um einen kreativen Prozeß, in dessen Zentrum Björk
steht. Daß mit Freiheit ein Verhältnis gemeint ist, wo jeder
Forderungen stellen kann und nicht alle so tun, als wären sie sich
immer einig - das macht Björk mit ihren klobigen Sportboots deutlich.
"Ich
wurde von Hippies aufgezogen und war selbst ein Punk. Hippies und Punks
sind ein Gegensatz, deshalb stehen sie in so starkem Bezug zueinander. Die
Punks waren so sehr damit beschäftigt, keine Hippies zu werden,
daß sie Punks wurden. Erst letztes Jahr habe ich angefangen zu sagen:
Ja, ja, es war schon nicht schlecht, unter Hippies aufzuwachsen. Aber bis
ich 28 war, habe ich sie gehaßt, ich hasse immer noch die Farbe lila
(steht auf und stampft mit dem Fuß auf den Boden).
Ich habe immer große Schuhe getragen,
Punks tragen große Schuhe, down to earth. Hippies trugen
immer kleine Schuhe, petit, und schwebten oben am Himmel. Darauf reagierte
ich mit: (stampft erneut mit dem Fuß auf den
Boden) Nein, ich bin ein Punk."
Löffelschmeißen, auf den Boden stampfen, komische Geräusche
zur lautmalerischen Illustration machen - Björk wird ziemlich
plastisch und konkret, wenn sie sich erklärt, und im Grunde handelt
auch ihre Musik davon.
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